ANTARKTISTAGEBUCH (AUSZÜGE)
11.12.2010 Heute haben wir die ersten ausgedehnten Eisfelder
erreicht. Rabenschwarze Nacht, durchschnitten von 3 gewaltigen
Eisscheinwerfern, die auf einen gemeinsamen Punkt am scheinbar
in unendlicher Ferne liegenden Horizont fokussieren. Nächtliches
Schwarz, aus dem Eisbarrieren, dem Unkonkreten, Unscharfen und
Ungefähren entrissen, rasch größer werden. Im Zeitraffertempo
schieben sie sich in eine durchformulierte Körperlichkeit, bis sie vom
Bug aus 6 cm dickem Stahl rumpelnd und mit einem durch den ganzen
Schiffsleib gehenden Beben zerteilt werden.
12.12.2010 Mühelos, fast spielerisch durchschneidet die
perfekt organisierte, mit anspruchsvollster Technik bis unters Dach
vollgestopfte kleine Stadt aus Stahl die losen, sich gegeneinander
bewegenden Eisfelder von nicht unbeträchtlicher Größe und Stärke.
Schollen werden krachend und knirschend beiseite gedrängt, umgewälzt
und rauschend überflutet, dabei die schönsten Nuancierungen
aller erdenklicher Blau- und Türkist.ne freigebend, gehöht von
strahlendstem, kalten Weiß. Ein komplementäres Spektrum an Ockertönen
aus Algenbewuchs an den Unterseiten der sich aufbäumenden
Eisplatten sorgt für eine reduzierte Buntheit.
27.12.2010 Gestern in glühendem Abendlicht ein riesiger
Eisberg von ganz außergewöhnlicher Architektur, ein gigantisches
Fenster umrahmend, der aus der Vogelperspektive des Heli tiefe
Einblicke in sein Unterwasserleben vom leuchtenden Türkis zu unergründlichem
Indigo freigab. Adrenalin pur.
14.01.2012 In der Gerlache-Straße den ganzen Tag ein Feuerwerk
grandioser Lichtstimmungen in einer atemberaubenden Gletscherlandschaft,
zwischen Bergen, die steil aus dem Meer aufragen. Völlig
unberührte und vom Menschen unverdorbene Landschaften in ihrer
ureigensten, Jahrmillionen währenden Reinheit. Was für ein Kontrast zu
unseren Denaturierung und Selbstüberhebung generierenden urbanen
Lebensräumen, in denen alles auf unsere menschliche Dimensioniertheit
abgestimmt ist.
20.01.2010 Vorabkommando nach Rothera. Wir überfliegen
gewaltige Gletscher und tief verschneite Bergwelten, zum Greifen nah.
Berge, die noch nie erklommen wurden, Landschaften, auf die noch
nie ein Mensch einen Fuß gesetzt hat. Der Mensch, erdgeschichtlich ein
später Gast nur, ein Wimpernschlag in einem Meer aus Zeit. Scott
und Amundsen sind mir im Geiste. Die Heroen des beginnenden letzten
Jahrhunderts, die alles zurück ließen, um das Herz des letzten weißen
Fleckes auf den Landkarten der Erde zu erobern. Scotts ergreifende
Tagebuchpsychogramme geben Kunde von den unsagbaren Strapazen
und Torturen, die dem einen den Ruhm des Ersten, dem anderen den
Tod brachten. Sie zeugen vom Glauben an die Kraft des Individuums
und an sinngebende Werte, die heute so zerronnen scheinen.
21.01.2010 Alles wird durch den Kurs und die Geschwindigkeit
des Schiffes bestimmt. Die Landschaft und ihre „Begreifbarkeit“
bleiben hinter der Bordwand zurück und versagen dem eigenen Wollen
eine Annäherung. Das bedeutet ein gewaltiges Stück Reduzierung
für mich, der ich gewohnt bin, Landschaft zu erschreiten, zu berühren
und körperlich zu erfahren. Der Kompositorisches abschätzende Blick
durch den Sucher verengt die Befähigung, sich hinzugeben, selbstvergessen
und ohne Absicht zu sein. Ich zwinge mich immer wieder,
die Kamera beiseite zu legen angesichts des Überwältigenden, zu
verharren, Raum zu schaffen für Ergriffenheit und Entsprechungen zu
fühlen in den Landschaften meiner Seele. Endlich Rothera, endlich
festen Boden unter den Fü.en. Den ganzen Tag allein und staunend
zwischen Pinguinen, Weddellrobben, Seeelefanten und Eisbergen
verbracht. Exzessiv fotografiert. Geträumt. Glücklich.