”Hier ist der Docht der Zeit heruntergeschraubt.” – Eindrücklich charakterisiert diese Sinneswahrnehmung Erhart Kästners die Atmosphäre auf dem Berg Athos, den Kästner Mitte der fünfziger Jahre in zwei längeren Aufenthalten durchwanderte.
Knapp 30 Jahre später betritt Frank Rödel zum ersten Mal den Athos. Er ist fasziniert von der Weltabgewandtheit des dortigen Lebens, die den Fremden zur Reflexion der eigenen Welt und eigenen Werte animiert. Drei Reisen führten Frank Rödel in den Jahren 1983, 1996 und 1998 auf den Berg Athos, der sich südöstlich von Thessaloniki auf der Halbinsel Chalkidiki befindet und eine von drei fingerförmigen Ausläufern bildet. Er schließt in dem 2033 m hohen Berg Athos ab, nach dem die gesamte etwa 50 km lange und zwischen 5-10 km breite Landzunge benannt ist. Der Athos, von den Griechen als “Heiliger Berg” (griech. Agion Oros) bezeichnet, stellt eine selbstverwaltete Region innerhalb Griechenlands dar, die seit über 1000 Jahren Zentrum des orthodoxen Mönchtums ist. Frank Rödel besuchte insgesamt fünfzehn der zwanzig Großklöster – und zwar mit einer Aufenthaltsgenehmigung (griech. Diamoneterion) für jeweils vier Tage. Die strenge Reglementierung der Besucherzahl auf dem Heiligen Berg, nach der sich maximal zehn Nicht-Orthodoxe jeweils vier Tage lang dort aufhalten dürfen, ist sicherlich ein wesentlicher Faktor für das “Überleben” dieser von der profanen Welt auch heute noch so weit als möglich losgelösten monastischen Gesellschaft. Zu Fuß auf dem Berg Athos unterwegs, genoß Frank Rödel nicht nur die landschaftliche Schönheit dieser Region, sondern bekam durch Gespräche und Beobachtungen auch Einblick in das Leben auf dem Athos. Zugleich führten ihm die jahrhundertealten Klosterarchitekturen und Wandmalereien in den Kirchen und Refektorien die kunsthistorische Bedeutung des Heiligen Berges vor Augen. Ohne hier weiter in die Historie vorzudringen, bleibt festzuhalten, daß das athonitische Mönchtum eine äußerst wechselhafte Geschichte durchlebte: Auf Blütephasen mit zahlreichen neuen Klostergründungen folgten immer wieder Zeiten äußerer Angriffe, Plünderungen, Zerstörungen und Wiederaufbauten bis in das 20. Jahrhundert hinein. Frank Rödel nähert sich dem Athos weder unter historischen
noch unter kunsthistorischen Gesichtspunkten an, auch wenn er in den späteren Arbeiten kunsthistorische Kostbarkeiten wie Buchdeckel und Handschriften-Illuminationen im Umdruckverfahren mit einbindet. Vielmehr setzt der Maler das auf dem Athos Gesehene und Erlebte künstlerisch frei und individuell um. Seine Darstellungen sind keine Impressionen mit abbildendem Charakter und lokalisierbaren Standorten, sondern gedankliche, assoziative Spaziergänge. Zur bildlichen Umsetzung dieser Gegensätzlichkeiten wählt Rödel das Prinzip der Collage – nach Max Ernst, den Rödel in einem seiner Kataloge selbst einmal zitierte, “die systematische Ausbeutung des zufälligen, aber künstlerisch provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu geeigneten Ebene – und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt”. Im Gegensatz zu Max Ernst verbindet Frank Rödel verwandte statt wesensfremde Elemente miteinander: Neben skripturalen Fragmenten griechischer Schriftzeichen und stark vergrößerten linearen Handzeichnungen finden sich im Umdruckverfahren hergestellte Klosteransichten, Darstellungen byzantinischer und postbyzantinischer Kostbarkeiten und Handschriften. Szenen aus dem Leben Christi oder auch eine Illumination aus einer Anthologie des Klosters Iviron. Die Objekte, deren Auswahl sinnlich motiviert ist und zudem nach ästhetischen Gesichtspunkten erfolgte, werden als kulturelle Zeugnisse des Heiligen Berges für den Maler Rödel zu Chiffren der Geschichte und Vergangenheit. Dieser zeitlichen Dimension stellt er in Gestalt unbeschriebener, verwitterter Buchseiten, die in treppenartiger Anordnung aufgeklebt wurden, die Vergänglichkeit des Organischen zur Seite. Im Hintergrund der Darstellungen finden sich abstrahierte Landschaftselemente – entweder als dünne Lasur die Komposition hinterfangend oder diese in breiten Balken und Bögen stützend. Was in der ersten Serie bereits anklang, wird in der zweiten zur Gewißheit: Frank Rödels Arbeiten vom Berg Athos sind Darstellungen subjektiver Empfindungen, in denen sich Natur und Kultur assoziativ verbinden. Hinzu kommt die bildliche Umsetzung konkreter Eindrücke – wie der liturgischen Gesänge, bei denen die Mönche vor und hinter der Ikonostasis in einen Dialog treten. In Rödels Arbeiten äußert sich dieser Wechselgesang in der Schichtung verschiedener, durch die Transparenz der Bildträger miteinander korrespondierender Motive.
Kerstin Englert 2000